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Islâm und Moderne - Teil 6: Die Dynamik der islâmischen Wertordnung

An diesen Regeln kann man erkennen, wie der Islâm die Fragen beantworten kann, die jeden Tag durch neue Erscheinungen hervortreten, oder die neu auftauchenden Probleme lösen kann, die den stets veränderten gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Verhältnissen entspringen.

Die Dynamik der islâmischen Wertordnung, die ihr Dauer und Ganzheitlichkeit garantiert, kann man auch anhand des islâmischen Gesetzes (Scharîa) veranschaulichen, weil das Gesetz das schwierigste Element in einer Wertordnung bedeutet. Denn jede Zeit und jeder Ort hat ihre bzw. seine besonderen Verhältnisse. Wie sich das Gesetz unter den unterschiedlichen Bedingungen von Ort und Zeit verhält, kann ein guter Maßstab sein, eine Wertordnung zu beurteilen.

 

Die Dynamik im islâmischen Gesetz zeigt sich in fünf Punkten, die die festen Regeln, die von allen Muslimen anerkannten Konstanten, nicht betreffen, sondern die Varianten behandeln:

 

1. Viele regulierende Texte sind allgemeiner Natur, d. h. sie geben den Grundsatz, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Z. B. soll das politische System auf freie Wahl (Bai ‘a), Beratung (Schûra)

 

{und diejenigen, die auf ihren Herrn hören und das Gebet verrichten, ihre Angelegenheiten) durch Beratung untereinander (regeln) und von dem ausgeben, womit Wir sie versorgt haben,} [Sûra 42:38] {und ziehe sie in den Angelegenheiten zu Rate....} (Sûra 3:159), und Gerechtigkeit (Adl) {Allah befiehlt euch, anvertraute Güter ihren Eigentümern (wieder) auszuhändigen und, wenn ihr zwischen den Menschen richtet, in Gerechtigkeit zu richten. ...} [Sûra 4:58], {Allah gebietet Gerechtigkeit, gütig zu sein ...} [Sûra 16:90] basieren.

 

In welcher Form kann z. B. die Beratung vollzogen werden? Durch ein Abgeordnetenhaus eines modernen Staats oder durch vernünftige Köpfe, die das Stammesoberhaupt auf einer primitiven Insel wählt? Alle Formen sind unter Erfüllung der genannten drei Voraussetungen: freie Wahl, Beratung und Gerechtigkeit, möglich.

 

2. Ausführliche und ins Einzelne gehende Texte dulden mehrere Interpretationen, so dass keine Gruppe das richtige Verstehen für sich beanspruchen kann. In diesem Zusammenhang zeigt der Islâm eine große Flexibilität, die, wie eben angesprochen, im Rahmen der Konstanten bleibt, und somit keine Gefahr für die gesamte Wertordnung bedeutet.

 

Allâh sagt im Qurân: {Wir haben ihnen ja ein Buch gebracht, das Wir mit Wissen ausführlich dargelegt haben, als Rechtleitung und Barmherzigkeit für Leute, die glauben.} [Sûra 7:52] und Er sagt: {...Und alles haben Wir ganz ausführlich dargelegt.} [Sûra 17:12]

 

3. Die anerkannten Regeln schließen Ausnahmefälle nicht aus, sondern lassen Urteile für den Notfall zu, so dass man von Ausnahmeregeln sprechen kann.

 

Allâh sagt im Qurân: {Was ist mit euch, dass ihr nicht von dem esst, worüber Allahs Name ausgesprochen worden ist, wo Er euch doch ausführlich dargelegt hat, was Er euch verboten hat, außer dem, wozu ihr gezwungen werdet?} [Sûra 17:12]

 

Denn das islâmische Gesetz (Scharîa) besteht aus Texten (qurânischen und prophetischen) und Regeln, die Gelehrte im Laufe von Hunderten Jahren im Lichte der Texte hervorgebracht haben. Diese Regeln teilen sich in allgemeine und detaillierende Regeln auf.  Es gibt verschiedene Rechtschulen, deren Leistung genügendes Material für die Behandlung von Ausnahmefällen und neuen Erscheinungen bietet.

 

4. Das gesetzliche Urteil muss die speziellen Verhältnisse von Ort und Zeit berücksichtigen, so dass keiner als Gelehrter gilt, der die Regeln ungeachtet der menschlichen Verhältnisse von Ort und Zeit anwendet. Denn der göttliche Text schließt die menschliche Rolle nicht aus, was die Tatsache erklärt, warum die meisten Texte, d. h. im Bereich des Gesetzes, von hypothetischem Charakter sind. Ganz wenige Texte haben einen definitiven oder apodiktischen Sinn. In diesen Zusammenhang ist der menschliche Verstand gefordert, sich im Lichte der festen Regeln die Flexibilität der untergeordneten Regeln bestmöglichst auszunutzen, um das menschliche Glück zu ermöglichen.

 

Allâh sagt im Qurân: {...So fragt die Leute der Ermahnung, wenn ihr (es) nicht wisst.} [Sûra 21:07]

Deswegen muss Idschtihâd (arab.: stetiges Bemühen) von besonders kompetenten Gelehrten unternommen werden, die Religionsregeln und Wirklichkeitsverhältnisse in Einklang bringen können.

{Und wenn ihnen eine Angelegenheit zu (Ohren) kommt, die Sicherheit oder Furcht betrifft, machen sie es bekannt. Wenn sie es jedoch vor den Gesandten und den Befehlshabern unter ihnen brächten, würden es wahrlich diejenigen unter ihnen wissen, die es herausfinden können...} [Sûra 4:83]

 

5. Es gibt einen größen Raum, der nicht von qurânischen oder prophetischen Texten behandelt wird. Diesen Raum hat der Prophet mit ,,Verzeihungsraum” bezeichnet, durch den Gott, diesen Raum wohl aber nicht aus Vergesslichkeit freilassend, das menschliche Leben leicht machen lässt.

{O die ihr glaubt, fragt nicht nach Dingen, die, wenn sie euch offengelegt werden, euch leid tun, wenn ihr nach ihnen fragt zu der Zeit, da der Qurân offenbart wird, sie euch (gewiss) offengelegt werden, wo Allah sie übergangen hat. Und Allah ist Allvergebend und Nachsichtig.} [Sûra 5:101]

 

An diesen Regeln kann man erkennen, wie der Islâm die Fragen beantworten kann, die jeden Tag durch neue Erscheinungen hervortreten, oder die neu auftauchenden Probleme lösen kann, die den stets veränderten gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Verhältnissen entspringen.

{...Es ist fürwahr ein wehrhaftes Buch, an das das Falsche weder von vorn noch von hinten herankommt, eine Offenbarung von einem Allweisen und Lobenswürdigen.} [Sûra 41:41-42]

Die islâmische Dynamik kann man mit dem Motto zusammenfassend bezeichnen: Beweglichkeit in einem festen Rahmen.

 


Quelle: islamweb.net